Aus dem Reisetagebuch.
Deutschland, NRW, Oktober 2021:
Unterwegs zum Geburtstagsevent im Familienkreis. Es jährt sich. Ein Herbst des Lebens, wenn man großzügig ist. In Berlin am überfüllten Gleis die Nachricht: Der Zug fällt aus. Es kommt jedoch Ersatz. Allerdings nur der halbe Zug. Und die Wagons in umgekehrter Reihenfolge. Aber das macht nichts, weil die Reservierungen aufgehoben sind. – Trotzdem steigen wir ein: mein Mann, meine Tochter und ich. Da das Kleinkindabteil bereits ab Erststation Ostbahnhof überfüllt ist, rät uns das Zugpersonal zur Suche eines gewöhnlichen Abteils. Die Suche ist erfolgreich. Eine nette junge Frau teilt ein Abteil mit uns. Es gibt dort niedrige Tische zwischen den Sitzen mit runden Vertiefungen für Getränke. Unsere Tochter nutzt sie als Spieltische. Für die Steckdosen unter den Tischen interessiert sie sich glücklicherweise nur zeitweise. Alle überleben die Fahrt. Auch dank vorhandenem Bistrowagon. Obwohl dort der Kühlschrank etwas zu kühl ist: Alle Getränke sind tiefgefroren. Beim Kaffee verhält sich das immerhin anders. Wenn man den Kaffee dort als Kaffee bezeichnen möchte. Er enthält jedenfalls Koffein und das ist die Hauptsache. Auf einen Umstieg in die Regionalbahn dürfen wir verzichten. An einem größeren Unterwegsbahnhof werden wir abgeholt. Das spart nicht nur Zeit. Die Regionalbahn fährt momentan sowieso nur bedingt. Die Strecke ist ob flutenden Klimas verstört. Ein Ziehharmonikabus namens Schienenersatzverkehr kurvt dort. Statt Hügelslalom Autobahnauffahrt. LKWs und Raser sieht man heute nicht. NEBEL. Sicht unter 50 Metern. Als wir das Ziel erreichen, ist der Geburtstag schon fortgeschritten, aber noch nicht vorbei. Man muss immer das Positive sehen. Scheiß auf die Witterungsbedingungen. Das fällt uns leichter, da andere Gäste unser Schicksal teilen. Nach deren erster Stunde Bahnfahrt: Oberleitung ohne Strom. Einstündige Verspätung mit Entschädigungsoption knapp verpasst. Genau wie alle Anschlüsse. Dafür: Sightseeing-Spaziergang am Rhein. – Die Wege der Bahn sind unergründlich. Hoch die Trassen! Nein. Auf die Jubilarin: meine Mutter! Die sich aufgrund ihrer Krankheit sowieso an nichts erinnern wird. Wahrscheinlich. Wie letztlich die Geschichte.
Der Tag danach. Spaziergang. Verdauungsspaziergang. Mal wieder. Auf Familienbesuch sind alle Spaziergänge Verdauungsspaziergänge. Matschige Wege. Kahle Hügelketten. Kühe, Schafe, Pferde hinter Strom. Sattelschlepper mit polnischen Kennzeichen, die gefällte Fichten transportieren.
Später: Fischen im Bücherregal. Ich finde „Beethoven im Gespräch“. Darin: „Beethoven als Kind“. Nach den Aufzeichnungen Gottfried Fischers, des Besitzers von Beethovens Geburtshaus in Bonn, in dem er seine Kindheit verbrachte. Davon gibt es offenbar nicht viel zu berichten. Bis auf das zu wilde Klavierspiel (was sonst) – durfte er nicht, musste die Violine nehmen. Dazu die Tochter des Vermieters, die Klein-Beethoven ermahnt: „Wie siehst du wieder so schmutzig aus, du solltest dich etwas proprer halten.“ Ich lege das Buch beiseite und beschließe, die Räder des Buggys doch nicht mehr zu reinigen. Stattdessen setze ich mich mit meiner Tochter ans Klavier. Sie drückt der Reihe nach alle schwarzen Tasten. Die weißen mag sie nicht.
Draußen gammelt im Nieselregen der Wein. Am Nachmittag kommt unerwartet die Sonne raus. Plötzlich fast Spätsommer. Wäre da nicht das Laub. Ich streife durch den Garten meiner Eltern. Den Großteil des Jahres ein Ort ohne Klimazonen. Erkenne die Bäumchen von früher kaum. Pflücke mir ein paar Trauben, die es geschafft haben. Sie schmecken nach Italien. Um genau zu sein: nach einer Künstlervilla am Lago Maggiore, wo ich als Kind mal die Herbstferien verbracht habe. Trauben und Maroni. Ein verwildertes Grundstück. Katzen, die ich füttern durfte. – Ein fetter schwarzer Kater streicht ums Haus. Ungestiefelt. Altersschwach. Ich spucke die Kerne der Trauben auf den Rasen.
Im Haus: Buchrücken, Terrakotta, Bilder in staubigen Rahmen. Man schafft das alles irgendwann nicht mehr, sagt jemand.
Meine Tochter beißt in einen blau-grauen Plastikdinosaurier, den ich hier irgendwann zurückgelassen habe. Ich ziehe ihr den Draußen-Overall über, nehme sie mit an die Luft. Sie rennt ausgebesserte Teersträßchen entlang, Feldwege. Ein Kälbchen kommt an den Zaun. Wir müssen auf Abstand bleiben, Elektro. Schmerzhafte Erinnerungen. Über den Weiden Überlandleitungen, riesige Stahlbäume. In der Ferne ein einsames Windrad.
In den Wald gehen wir heute nicht. Nicht nur wegen der schlammigen Furchen, der pflügenden Lastwagen. Sondern weil der Wald weg ist. Überall Wunden in der Landschaft. Die Trockenheit, der Borkenkäfer. Nie der Mensch, natürlich. Der Wald, den ich mal kannte, wird jetzt in China zu Einbauschränken verarbeitet, zu Tischen und Stühlen. Ich beschließe, in Zukunft noch gewissenhafter auf nachhaltige Zertifizierungslabels zu achten.
Am Abend werde ich zum Ziehen einer Karte eines Künstler*innenorakels aufgefordert. Na gut. Ich ziehe Marcel Duchamp: „Scandal before Stardom“. Mist, kein Pissoir im Haus. Danach ziehe ich ein Buch aus dem Bücherregal: „Dichten und Trachten – Jahresschau des Suhrkamp-Verlags“ von 1954. Ein A6 kleines Verlagsprogramm. Relikt aus der Bibliothek meiner Großeltern. Den Anfang macht Max Frisch mit „Stiller“. Es gibt eine Leseprobe, der Auszug titelt: „Allerseelenfest“. Er beschreibt den Totensonntag auf mexikanischen Friedhöfen. Draußen streicht Bruder Oktober ums Haus. Ich lese: „Es gibt, angesichts der Tatsache von Leben und Tod, gar nichts zu sagen.“ Und weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann.