fichtensterben

Pfingsten erscheint mein neues Langgedicht fichtensterben. Es ist Ende 2022/Anfang 2023 entstanden und beschäftigt sich mit dem Fichtensterben in Deutschland bzw. im Kreis Siegerland/Wittgenstein ab etwa 2020 bis heute. Das Langgedicht erzählt in groben Zügen die Geschichte des Ortes: von der geologischen Beschaffenheit, über die keltische Holzwirtschaft und Eisenverhüttung bis zum Klimawandel. Es ist ein insgesamt sehr persönlicher Text, da ich dort aufgewachsen bin und 2022 einen Moment erlebt habe, in dem ich die Landschaft nicht mehr erkannt habe. Das hat nur einige Sekunden gedauert, war aber ein so krasses Erlebnis, dass ich es textlich verarbeiten musste. Herausgekommen ist dabei dieses Langgedicht.

Angelehnt an die Realität ist das lyrische Ich in fichtensterben auf Heimatbesuch und erlebt unmittelbar die Klimakatastrophe vor Ort. Formal handelt es sich um teils epische, teils experimentelle Ecopoetry, gehört also in die Kategorie Nature Writing. Das Gedicht vertieft sich in das Naturerleben, das Erleben des (Ab-)Sterbens, des Verlusts, beobachtet das Überschreiben von Erinnerung, verhandelt die vermeintliche Dichotomie urban-ländlich und fragt nach neuen Perspektiven des Miteinanders, nach nachhaltigen, gemeinschaftlichen Zukunftsperspektiven.

Das Fichtensterben, auch wenn es sich um das Verschwinden künstlich angelegter Brotbaum-Plantagen handelt, hat mir in den letzten Jahren zugesetzt. An Orten, die einem vertraut sind, kann man das Ausmaß der Klimakatastrophe besonders intensiv erfahren, auch da sich der Wandel über die Zeit sehr deutlich sehen lässt. Diese Erfahrungen haben mich auch als bildende Künstlerin umgetrieben. So habe ich beispielsweise von Borkenkäfern gezeichnete Rinde gesammelt und diese Fragmente von Bäumen konserviert und bildnerisch aufbereitet. Auch mittels Text, Foto, Collage habe ich mich dem Sujet immer wieder genähert. Das Thema Wald ist ein Hauptanliegen aller meiner künstlerischen Tätigkeiten. 2019 wurde meine Collage Hainbuche mit dem 2.Platz des Kunstpreises des Berliner Münzenbergforums ausgezeichnet. Einen Eindruck von meinen Holzarbeiten gibt es hier:

Asemic Writing

Dem Langgedicht nun, ist ein Zitat Thoreaus vorangestellt, das auch meine bildnerische Arbeit begleitet:

If a man walk in the woods for love of them half of each day, he is in danger of being regarded as a loafer; but if he spends his whole day as a speculator, shearing off those woods and making earth bald before her time, he is esteemed an industrious and enterprising citizen.

Henry David Thoreau, Life Without Principle, 1863

 

fichtensterben möchte einen Beitrag leisten, um dieses (selbst-)zerstörerische kapitalistische Wertedoktrin zu entkräften, ja, außer Kraft zu setzen zugunsten einer freiheitlichen, vielfältigen, demokratischen Gesellschaft, die Kreativität und das Finden einer erfüllenden Tätigkeit im Leben mehr schätzt als Geld, des Ikigai, wie es in Japan so schön heißt (und was ich berlinerische ausgesprochen auch sehr passend finde).

 

fichtensterben kann direkt beim Verlag bestellt werden. Dort gibt es auch eine längere Leseprobe:

offbeat-publishing.de

Bestellungen können außerdem direkt an mich adressiert werden: info@victoriahohmann.de

Ab Ende Mai ist das Buch überall im Buchhandel erhältlich.

 

 

 

 

Die erste OffBeat-Publikation: Potenz.

Potenz. Ein Langgedicht. 

einfach gestrickt

lässt er das wollen fallen 

Potenz, die (Substantiv, Femininum) – Herkunft aus potentialat ‘Vermögen, Kraft, Macht, Gewalt, Zeugungsfähigkeit’ < potēns ‘mächtig, vermögend, fähig, einflussreich, stark’ ↗ potent adj. ‘stark, mächtig, zeugungsfähig’.

Potenz als männlich konnotierter Begriff. Kraft, Macht, Gewalt, Stärke, Einfluss üben in der Regel Männer aus. Zeugungsfähigkeit als Schlüssel der Reproduktion, als Familien erschaffend, konstituierend, Geschlechter, Häuser, das Fortbestehen der Menschheit sichernd. Dazu Fähigkeit und Vermögen, das auch als finanzielles gelesen werden kann, die Männern zugesprochen werden, von Geburt an. Weil Mann ein Synonym für Mensch ist und Frau ein Synonym für Rippe. Belanglos, dass Frauen Menschen in ihren Gebärmüttern bauen. Was zählt ist der Same, Eier sind egal, liegen da so im Regal des Unterleibs des Weibs. Das Schwach ist, ein Frauenzimmer. Dagegen das Mannsbild. Heraus in die Welt tritt es, um sich, aktiv, stark, zerstörerisch, mächtig, prächtig. Zierlich rankt sich die Rose um den Herrscher, ihn zu zieren. – Ein Ausschnitt haarsträubender, eingetrichterter, binärer Narrative. Die Potenz dieser Narrative potenziert sich mit jedem Individuum. Mythen, Märchen, Muster, Traditionen, die uns mitgegeben werden, sich in uns festgesetzt haben, in denen wir uns versponnen haben und sie aufgrund dieser Jahrhunderte währenden Weitergabe als Wahrheit und Wurzeln empfinden. So tief sitzen diese Erzählungen, sitzt der Glaube zu wissen. Schwierig, da an Perspektiven zu rütteln, andere Perspektiven aufzuzeigen, andere Narrative zu etablieren. Viele Vorstellungen haben sich so fundamental festgesetzt, dass wir selbst als Verfasser*innen, als Urheber*innen dieser Narrative kaum mehr vorstellbar sind. Stößt man also gegen eine alte Vorstellung, um sie ins Rollen zu bringen, wird der Stein des Anstoßes flugs von Konservativismus im Boden zementiert. Veränderung ist nicht gewünscht, wird als gefährlich, als Bedrohung erlebt.

Wie die Schale aufbrechen? Die Nuss knacken? Ohne Angriff, ohne Ohrfeige, ohne Maulschelle. Gibt es da überhaupt eine Möglichkeit? – Humor als Weg. Lachen, das befreit, verwandelt, Perspektiven verschiebt, eine Distanz zu den eigenen Narrativen herstellt. Humor schenkt Abstand, der Neues ermöglicht, eigene Ansichten hinterfragt. Etwas weglachen, sich einen Weg lachen. Schmerz und Scherz. Liegen nah beieinander, können, und können sich guttun.

Ich habe versucht, einen Text zu schreiben, der eingefleischte Narrative humorvoll als selbstverschuldete Narrheiten enttarnt. Als Geschichten, die wir uns erzählen und die nicht auf einer mythischen, grundsätzlichen Wahrheit basieren. Sondern vielleicht auf nichts als kalkulierter Selbstbegrenzung. Die Grenzen aufhebeln. Das Hirn frei machen, neue Synapsen bilden, andere Bilder, Verständnisse von Welt kreieren – Anliegen des Texts. Wir sind alles, was wir uns erlauben zu sein. Etikette kommt von. Genau.

Wir meinen, eine Vorstellung davon zu haben, was eine Frau, was ein Mann ist, hängen einem dualistischen Weltbild an, das uns vermeintlich Sicherheit gibt. Besonders vermeintlich in unruhigen Zeiten. Aber Sicherheit finden wir nicht an Grenzen, an Grenzzäunen, sondern an offenen Grenzübergängen, ohne Grenzkontrollen, denn dann leben wir in Frieden. Potenz möchte Linien verschieben, in Wellen verwandeln, auflösen. Der männlich-sexistische Blick wird invertiert. Was dabei entsteht ist daher kein weiblich-sexistischer Blick, auch nicht ein weiblich-sexistischer Blick verstellt und voreingestellt durch einen männlich-sexistischen Blick, sondern ein Blick, der die Formen verflüssigt und ad absurdum führt. Konsequent invertiert werden Macht-Asymmetrie und Zuschreibungen überraschenderweise nicht zum Gegenteil, sondern der Dualismus bröckelt, gerät ins Wanken, funktioniert nicht mehr.

Ich hoffe auf dieses einfache Gegenmittel, eine Art Gegengift, das nicht in ein Gegenteil verkehrt, sondern so etwas wie neutralisiert, Narrativen ihre Wirksamkeit nimmt, sie aufhebt und in die Luft wirft. Den Dualismus mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Den Schwung dieses Gegners nutzen. So ernst es auch ist. Mit befreiendem Lachen, das Distanz schafft und Nähe. Ich hoffe, dass dieser Text ein Beitrag sein kann. Zweifel an Tradiertem nährt, Offenheit mehrt.

Ich freue mich auf Leser*innen.

männer in röcken

das ist doch keine revolution mehr

 

Vorbestellungen an: info@victoriahohmann.de

Oder im VHV-Verlagsshop: https://vhv-verlag.de/produkt/potenz-jetzt-vorbestellen/

Danke. <3