Aus dem Tagebuch.
Berlin, Oktober 2021:
Seit dem 22.August ist sie wieder geöffnet: Die Neue Nationalgalerie Berlin. 6 Jahre Instandsetzung. Der Bau von Ludwig Mies van der Rohe verdoktort von David Chipperfield. Die Neue – wie sie jetzt für sich wirbt – ein Museum, das den Blick öffnet, wieder, endlich. Glas und Stahl – immer noch eine geniale Kombi. Dieser Denkraum mitten im Stadtraum. Diese Insel der Kunst, des Geistigen, der Ideen, der Form, Linie, Farbe inmitten von Noise – und doch nicht abgeschnitten vom Leben, schon von Weitem Einsicht gewährend, verwandelnd, magisch. Kurz: Eins meiner absoluten Lieblingsmuseen. Zwei Wochen lang Vorfreude, Zeitfenstertickets on Display und dann: Überwältigt. Die Neue nun noch schöner als vorher. (Fast will ich „erhabener“ schreiben schreien jauchzen.) Und was es da nicht alles zu sehen gibt. Klar, während der Schließung waren etliche Werke der Sammlung auch immer wieder im Hamburger Bahnhof ausgestellt – aber. Sorry. Die Neue ist einfach anders. Alte Freund*innen treffen. Im alten neuen Rahmen. Wie gut, dass sie noch da sind: Die Bilder. Nach dieser ganzen Zeit. Trotz Pandemie. Deren Spuren beim Wiedersehen deutlicher spüren denn je. Durchatmen. Hinter der FFP2-Maske. Die Besucherzahlreichen in den Räumlichkeiten versuchsweise ausblendend. „Die Kunst der Gesellschaft“ wartet.
Zu Beginn: Karl Hofer, dessen Trommler in „Die schwarzen Zimmer“ treffen – für mich ein Warner, wie es ihn zu allen Zeiten braucht. Sieht schließlich nich schick aus hier, wa. Grosz` „Stützen der Gesellschaft“ – die sich seit 1926 leider kaum verändert zu haben scheinen. Kriegsbilder von Dix, der auch alles andere kann als grotesk. Mich an die Ausstellung „Otto Dix. DER KRIEG“ 2014 im Dresdener Albertinum erinnern. Ein einziger Kriegsalbtraum. Fast unerträglich gut. Wie selbstverständlich damals das Reisen war, der Wochenendausflug an überfüllte Stätten. Ob es noch mal so unbeschwert wird, demnächst? Weitermachen, weiter sehen: Die Surrealisten: Ernst, Dali, Magritte – die wir vielleicht nie dringender gebraucht haben. Dazu: Die Bauhäusler und Abstrakten, darunter: Schlemmer, Baumeister, Kandinsky, Marc. Zum Glück sind sie noch da! Genau wie Max Beckmann. Dessen scharfkantige Expression, die von schwarzen Konturen gezeichnete Farbwucht. Ich stehe mit meiner Tochter vor den Großformaten „Geburt“ und „Tod“. Und mir reißt es fast den Boden unter den Füßen weg. Meine Tochter versteht noch nicht. Sie interessiert sich sowieso mehr für Skulptur. Für die Selbstporträts von Reneé Sintenis (mit ihrem scharfen Profil perfekte Nachbarin Beckmanns). Oder für die soziale Plastik in Gestalt der Besucher*innen ringsum. Meine Tochter mag Menschen. Das bekommen diese darum ständig zu spüren. Ein Lachen, Winken, Kontaktaufnehmen ist das. Das ich heute dauernd unterbinden muss. Weil: Benimm Benimm. Der die das Bildungsbürgergetüm möchte ungestört Kunsterklärtafeln lesen. Verstehen wir auch. Nimmt aber auch viel. Leider auch vorweg. Im Raum der Zeitschrift und Galerie „Der Sturm“ beginnt meine Tochter dann richtig zu quengeln. Sie will selbst laufen. Aber überall Beine. Darum bitte an der Hand. Genervte Blicke. Bis auf Herwarth Walden: Der verzieht keine Miene.
Keine Klassische Moderne ohne „Entartete Kunst“. Das macht das Wiedersehen komplett. Meine Zeit an der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin. Auf einmal wieder präsent und nah. Das Büro, die Datenbank, die Veranstaltungsbetreuung, die Bibliotheken, die Archive. Vor allem die Archive. Bundesarchiv, Landesarchiv, Zentralarchiv, meistens aber: das Archiv der Akademie der Künste. Bachelorarbeit, Masterarbeit, Hausarbeiten. Findbücher, Akten, Fotos, Mikrofilme, Mikrofiche, Nachlässe. Künstler*innen, Ausstellungen, Kunsthandel der 1930er und 40er-Jahre. Schreckliche Geschichten. Entdeckungen. Die dem Vergessen entrissen werden müssen. Opportunisten, Verräter, Verbrecher, Bespitzelte, Enteignete, Verfolgte, Mörder, Ermordete. Aber auch Nachfahr*innen, wenn man nicht aufgibt. Die fast zufällig auftauchen, als Randnotiz, im Bildhintergrund, irgendwo auf der Welt. Spuren in der Dämmerung. Dazu Leuchtfeuer der Bilder. Auf Leinwand, auf Papier. Die doch nicht verbrannt sind, zerstört wurden. Provenienzen sprechen. Verlorengeglaubte Erzählungen. Tuschelnde Akten. Die Vergangenheit steckt voller Neuigkeiten. Das manchmal kaum fassen können. Fakten versus Propaganda. Wie Gegengift. Das mit der Zeit wirkt. Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Das Museum des 20. Jahrhunderts bald ergänzend next door zur Neuen. Eine einzigartige Sammlung von Freigeistigem, nicht klein zu kriegen. Veränderung findet immer eine Mündung. Das Mysterium Zeit bestaunen. Das Jahrhundertwenden. Umbrüche, Brüche – mit meiner Tochter Edward Munchs „Lebensfries“ (Reinhardt-Fries) entlang gehen. Allzumenschliches in flächigen, sehnsuchtsvollen Pastellfarben. Hin zu Georg Kolbes „Tänzerin“. Die mit ausgebreiteten Armen in diesem Moment alles vergisst und alles findet. Erinnerung an ein Seminar im Untergeschoss des Georg Kolbe Museums. Wintersemester. Alles in Mantel. Kultur muss sparen, wo sie kann. (Bitte anders!) Ich erkläre meiner Tochter: „Tänzerin“. Sie versteht, breitet die Arme aus. Funktioniert, mit der Nachahmung. Am Ausgang gegenüber: Paula Modersohn-Beckers leuchtend rosarot-fleischfarbener Akt „Kniende Mutter mit Kind an der Brust“. Meine Tochter zeigt und erklärt mir: „Mama“.
Im glasumspannten Erdgeschoss schauen wir danach Alexander Calder „Minimal / Maximal“ – Mobiles und Stabiles von Streichholzschatelgröße bis monumentaler Stahlkonstruktion. Massivität und Leichtigkeit, Form und Spiel, Bewegung und Balance. Vor allem Balance – zumindest für mich heute. Die innere Welt wieder nach außen tragen. Den Denkraum in den Stadtraum. Live. Allmählich beginnt es wieder. Trotz Care-Arbeit und Corona.
Durch den Gleisdreieck Park nach Hause schlendern. Einen Kaffee auf die Hand. Sonne. Goldener Herbst. Die Neue wirkt. Werkelt am wir mir. Streicht durch den Kopf. Mit viel Farbe.