Und dann fahren wir hin. An den Ort, der uns überhaupt bewog, in die Normandie zu reisen, nachdem uns vor einem Jahr die Einladung zur Hochzeit erreichte und damit eine Reiseplanung begann: Omaha Beach. Damals ahnten wir nicht, dass es in naher Zukunft einen Angriffskrieg in Europa geben würde, dass eine solche Zeitenwende zu unseren Lebzeiten überhaupt eine Option sein könnte, waren schon ausreichend schockiert vom überall erstarkenden Nationalismus, den damit verbundenen Spaltungstendenzen und Narrativen.
Es ist ein windiger Tag, an dem die vorausgesagten Regenschauer wunderbarerweise ausbleiben. Der Wind fegt den Himmel sogar wolkenfrei. Erst auf der Rückfahrt über die Mautstraße wird uns ein Platzregen zu einem bedächtigen Tempolimit zwingen, mit einer Sichtweite nur knapp bis zu den Rücklichtern des voranfahrenden Wagens. Jetzt kurven wir in unserem klobigen Hybrid über kleine Sträßchen, durch Miniaturortschaften mit Häuschen und Gehöften aus Stein, wie Filmkulissen, man kennt das, hat das schon etliche Male in Spielfilmen über den Zweiten Weltkrieg gesehen. Die Straße, mehr ein geteerter Feldweg, und Google Maps leiten uns entlang eines Wäldchens, an Weiden vorbei, eine kleine Anhöhe hinauf und: Da liegt sie plötzlich, diese Bucht. Mit ein paar parkenden Autos auf einer Wiese unten am Ufer, die hier der offizielle Parkplatz ist. Daneben ein halb verfallener Spielplatz, eine ähnlich anmutende öffentliche Toilette, ein Strandsegler- und Kajak-Verleih zu Füßen einer sich gut integrierenden, am Hang dieser Seite der Bucht liegenden kleinen Ferienbungalowanlage. Niemand ist zu sehen. Doch, am Strand spazieren vereinzelte Tourist:innen.
Wir gesellen uns nach kurzem Spielplatztest dazu. Laufen eine Betonrampe für Boote hinunter auf den Sand. Stehen da. Blicken über die Bucht. Die sich in einem endlosen zehn Kilometer langen Bogen erstreckt, in der Ferne in Felsküste übergeht. Ich habe das Bedürfnis, meine Schuhe auszuziehen. Wie man einen Hut abnimmt, wenn man eine Gedenkstätte betritt oder einen sakralen Raum. Es ist Ebbe. Darum ist der Sand bereits kurz hinter der Betonrampe feucht und in den vom Meer hinterlassenen Schlieren steht Wasser. Dahinter breite Priele, eine Sandbank, dann die sachten Wellen des Ärmelkanals. Mit meiner Tochter an der Hand gehe ich vor zum Meer. Nehme sie in der seichten Brandung auf den Arm. Schaue Richtung Utah Beach, Richtung Gold, Juno und Sword Beach. Kaum ein Mensch zu sehen, kein Boot, kein Schiff und doch ist alles angefüllt mit einer geisterhaften Präsenz von Kriegsschiffen, Landungsbooten, Panzersperren, Stacheldraht, Soldaten. Oder ist das meine Phantasie? Habe ich zu viele Bilder des D-Day vor Augen? – Eine seltsame Atmosphäre. Ein seltsamer Ort. Es ist anders hier als an allen Orten, die ich bisher in meinem Leben bereist habe. Und das liegt nicht an meiner sicherlich ausgeprägten Imaginationskraft. Die Vergangenheit ist hier. Anwesend. Vielleicht, weil sie die Gegenwart bis heute bewegt. Weil das hier nicht irgendein Ort ist. Weil ich diesem Ort im Grunde mein Leben verdanke, meine Freiheit, die Werte, mit denen ich aufwachsen durfte, den Frieden. Weil es ohne diesen Ort Europa nicht gäbe, mit dem längsten und beständigsten Frieden seiner Geschichte, die Europäische Union, Demokratie und Selbstentfaltung. Ich stehe in den Wellen und spüre diese ungeheure Präsenz des Gewesenen. Auch die Grausamkeit, die Gewalt. Und dann meine Tochter auf meinem Arm. Und den Sand zwischen meinen Zehen, beim Zurückgehen, auf diesem Strand, auf dem einmal jeder Meter vermint war, alles voller Leichen lag. Wo meine Tochter jetzt steht und mit einer Boje spielt. Und mich überkommt eine unendliche Dankbarkeit, die mich schier zerreißt. Die Tränen laufen einfach runter. Ich habe in meinem Leben schon einige Schauplätze des Zweiten Weltkriegs besucht und versuche, einen Vergleich für diesen Ort zu finden. Aber es gibt keinen. Oder zumindest nicht für mich. Die Anwesenheit der Vergangenheit ist ähnlich intensiv wie in ehemaligen Konzentrationslagern, ist das Einzige, was mir einfällt. Nur dort hat Vergangenheit mich zuvor in meinem Leben ähnlich tief und nachhaltig getroffen. Ohne einen Vergleich der Orte anstellen zu wollen. Nur, um die emotionale Dimension versuchsweise zu verdeutlichen. Weil Omaha Beach ist natürlich etwas ganz anderes. Etwas dem Entgegengesetztes. Und genau das trifft mich als Mensch und ins Herz.
Wir erklimmen etappenweise den Hügel mit unserem klapprigen Reisebuggy. Vorbei an den deutschen Bunkern des Atlantikwalls, perfide von den Nazis Widerstandsnester genannt, den Memorials für die gefallenen Privates, Corporals, Lieutnants, den Helden der ersten Stunde, der ersten Welle des D-Day – 4.400 junge Männer, Amerikaner, Briten, Kanadier, auch Franzosen und Polen. 2.400 lagen am 6.Juni 1944 tot hier auf dem Omaha Beach, viele erreichten nicht mal das Land. 850.000 Alliierte landeten insgesamt bis zum 30.Juni bei der Operation Overlord, die den Atlantikwall der Nazis durchbrach und eine zweite, kriegsentscheidende Front aufmachte.
Hier am Hang oberhalb der Dünen treffen wir auf mehr Tourist:innen. Eine Gruppe wird gerade von einem Guide über einen der Bunker informiert. Die meisten kommen vom auf der Anhöhe neben dem amerikanischen Soldatenfriedhof gelegen großen Parkplatz hinunter. Wir hören Französisch, Englisch – britisches, amerikanisches und kanadisches, Niederländisch, Spanisch, auch Schweizer sind unterwegs. Deutsch hören wir nur das eigene, auch wenn wir auf dem Parkplatz unten ein deutsches Nummernschild gesichtet hatten. Sobald wir den Mund aufmachen, werden wir angeschaut. Es ist merkwürdig, an einem solchen Ort Deutsch zu sprechen. Auf der Rückseite einer metallenen Infotafel lese ich mit wasserfestem Marker eine eindeutige Botschaft an Deutsche. Womit hier Nazis gemeint sind. Natürlich aus pubertärer Feder. Trotzdem: Ein fragiler Ort. Meine Tochter rennt nichts ahnend den Hügel hinauf. Will an einem Denkmal hochklettern. Das geht natürlich nicht. Ich muss streng sein. Und das auf Deutsch. Aber wie das klingt. Darum spreche ich sanft. Viel zu sanft für ein Nein. Meine Tochter mag trotzphasig so oder so nicht hören. Die für die meisten hier hoffentlich einfach nur eine Zweijährige ist. Und die dann einige Meter protestierend auf meinem Arm zappelt. Sich dann ablenken lässt. Es ist nicht einfach, diese „Besichtigung“ (wenn man das überhaupt so nennen kann). Weil wir hier irgendwie repräsentativ werden. Für eine Nation. Zumindest ein Stück weit. Obwohl das natürlich völliger Schwachsinn ist. Trotzdem: Wie dem begegnen, allen hier. Wir tragen alle unsere Geschichte im Gepäck. Die von Todfeinden weiß. Wie treffen wir hier aufeinander, als Besucher:innen. Wie lesen wir nebeneinanderstehend hier die Inschriften, wie gehen wir zur Seite, um die Neueintreffenden lesen zu lassen. Wie halten wir hier inne und schauen aufs Meer. Wie beugen wir uns zu den Öffnungen der Bunker. Wie steigen wir die Anhöhe hinauf. Wie mache ich meiner Tochter mit einer Sprache, bei der hier alle hellhörig werden, klar, dass wir erst auf dem Rückweg zu den Pferden auf der nahegelegenen Weide gehen. Wie fotografiere ich diesen Ort mit meinem Smartphone.
Es ist alles sehr eindrücklich und bewegend. Dabei haben wir den amerikanischen Soldatenfriedhof nicht einmal erreicht. Als es so weit ist, bitten uns Schilder um Andacht, Stille und den vorübergehenden Verzicht auf Essen. Da meine Tochter gerade hungrig wird, probieren wir die Taktik: Bitte sei still und setz dich in den Buggy, dann bekommst du nach dem Rundgang was Leckeres. Das funktioniert zum Glück erstaunlich gut. An einem schlichten Visitor-Centre mit Gedenktafeln vorbei geht es auf den Friedhof. Und der ist überwältigend.
Schlichte weiße marmorne Kreuze, dazwischen immer wieder weiße marmorne Davidsterne, kurzer grüner Rasen, teils von Bäumen beschattet, wie der Weg, die Wege um und entlang des großen, in Abschnitte unterteilten Friedhofs. Auf der einen Seite läuft man unter Pinien entlang einer niedrigen Steinmauer mit Blick aufs Meer. Auf das die Toten bis heute schauen. Die Namen auf den Kreuzen. Das Todesdatum, der Herkunftsort. An einzelnen Kreuzen lehnen Kränze oder es liegen Blumen davor. Zentral: Eine runde Kapelle, Andachtsort, mit ewigen Lichtern. Am oberen Rand des Friedhofs Gärtner. Die ab und an halbherzig den Laubbläser anschalten, es ist ihnen ganz offensichtlich unangenehm, die Ruhe hier stören zu müssen. Etliche Besucher:innen. Die meisten parken hier oben auf dem riesigen Parkplatz, gehen von hier aus los. Wir mittendrin, die wir wenig sprechen. Weil dieser Dreck aus unseren Mündern kommt. Deutsch. Das uns markiert. Auch wenn es nicht das Deutsch der Nazis ist. Es ordnet uns trotzdem einer Vergangenheit zu, einer Seite, mit der wir uns in keinster Weise identifizieren. Mein Mann nimmt das anders wahr. Hat einen anderen Fokus. Erzählt von der Anfangsszene von „Saving Private Ryan“, die hier gedreht wurde. Aber ganz egal, wer hier was wahrnimmt: Schweigen ist so oder so angebracht. Es verschlägt uns dazu auch einfach die Sprache. Sogar unsere Tochter wird still. Der Ort wirkt. Kurz vor dem Ausgang beginnt sie dann zu singen. Bruder Jakob.
Der Rückweg ist noch krasser als der Hinweg. Das Erleben des Friedhofs lässt uns den Ort noch intensiver sehen. Der Blick aufs Meer. Die weite Bucht. Eine Busladung Tourist:innen am Strand. Sie verlieren sich in der Kulisse. Veranschaulichen das Ausmaß. Wir können nicht mehr. Zum Glück müssen wir noch Pferde streicheln.
Über Landsträßchen zuckeln wir anschließend nach Bayeux. Die erste von den Nazis befreite Stadt. Einen Tag nach dem D-Day. Wir parken auf dem Marktplatz. Ein Regenbogen steht über der Stadt. Die sich weltoffen und freundlich zeigt, mit feministischen Graffitis auf Stromkästen, queerem Barista in High Heels, Besucher:innen aus aller Welt in den Straßen, um die Kathedrale, den Arbre de la Liberté, den Baum der Freiheit daneben.
Wir sind müde, trotzdem sofort verliebt in dieses Städtchen, bedauern, hier nicht einige Tage verbringen zu können. Schlendern bis zum Tapisserie-Museum, das den berühmten Teppich von Bayeux beherbergt, der in 58 Einzelszenen die Eroberung Englands durch den Normannenkönig William the Conqueror zeigt. Unzählige Reisegruppen von britischen Tourist:innen unterwegs. Wir sind in Sachen Historie heute nicht mehr aufnahmefähig, so spannend die britische Geschichte auch ist. (Meinen wir zumindest.) Die Notre-Dame de Bayeux, für die der Wandteppich einst geschaffen wurde, hat die letzten Sightseeing-Energie gefordert. Treten die Rückfahrt an. Kurz hinter Bayeux dann der Wolkenbruch. Wasservorhang. Kilometerlang. Welt unter. Vorbei an Caen, zurück zu Proust. Angelangt zeigen die News auf dem Smartphone-Display, dass es schlecht stehe, um Queen Elizabeth II. Über dem Meer der Sonnenuntergang. Der die Regenfront mittlerweile eine Armlänge von sich weggeschoben hat. Ein alabasterfarbenes Band über dem Ärmelkanal, wie ein strahlendes Leichentuch in Richtung England. Ein erneutes Checken der News ist eigentlich unnötig. Trotzdem. Erst zwei Minuten alt, die Nachricht: Die Queen ist tot. „Der Tag, an dem die Königin stirbt, heißt D-Day. Jeder folgende Tag bis zum Tag der Beerdigung wird als D-Day+1, D-Day+2 und so weiter bezeichnet“ – schreibt das zdf.
Ich stehe im Abendwind in diesem unwirklichen Zwielicht von Sonnenuntergang auf dem Balkon und schaue, nicht weit entfernt vom proustschen Grand Hotel, gen England. Fasse ihn nicht, diesen Tag. Der groß ist. Der sich verdichtet hat. Der zu mir spricht. Der mir etwas sagen will. Vielleicht über die Zeit. Wenn ich nur eine Ahnung hätte.